Ich gebe mal einen kurzen Zwischenbericht ab - ich lese derzeit ja "Ein ganzes halbes Jahr" von Jojo Moyes. Es geht um Will, der durch einen Unfall zum Tetraplegiker geworden ist (so wie Philippe Pozzo di Borgo aus "Ziemlich beste Freunde" oder Samuel Koch, nur als Beispiel). Dadurch ist er pflegebedürftig und abhängig von seinen Eltern geworden, zu denen er zurückgezogen ist. Er hat seine Lebensfreude verloren, ist desillusioniert, verlässt das Haus nicht mehr und hat einen Selbstmordversuch hinter sich. Mit seiner Mutter hat er ein halbes Jahr Bedenkzeit ausgehandelt, danach möchte er Sterbehilfe in Anspruch nehmen. Aus ihrer Verzweifelung heraus engagieren die Eltern einen Betreuung, die den ganzen Tag bei ihm ist, damit kein erneuter Selbstmordversuch geschieht und damit Will umgestimmt wird. Sie entscheiden sich für Louisa, die keinerlei Pflegerfahrung hat oder Umgang mit Tetraplegikern gewohnt ist. Louisa hat selber ein sehr festgefahrenes Leben und profitiert im Laufe ihrer Anstellung bei Will auch charakterlich durch den Umgang mit ihm.
Das Buch gefällt mir überhaupt nicht. Es ist von Anfang an voll mit Klischees über Behinderte bzw. Tetraplegikern, zudem ist es SO offensichtlich an der Geschichte von "Ziemlich beste Freunde" orientiert, dass jeder Depp das eigentlich merken müsste. Das Leben des Mannes wird so dargestellt, wie ein Nichtbehinderter sich das vorstellt, wenn man einen solchen Unfall hat: Das Leben ist natürlich nicht mehr lebenswert, volle Abhängigkeit, der Wunsch zu sterben. Die Figuren bleiben absolut flach, ebenso die Geschichte. Die Behinderung des Mannes wird immer nur angedeutet und rückt außerdem immer mehr aus dem Blickpunkt, die Probleme, die daraus folgern, werden zwar behandelt, aber immer nur die, die offensichtlich sind (zB dass man mit einem E-Rolli auf matschigen Wiesenparkplätzen steckenbleibt). Solche Sachen wie pflegerische Bedürfnisse werden fast gar nicht angekratzt, denn dafür ist ja noch eine extra Pflegekraft angestellt. Nach und nach bekommt der Mann in der Geschichte immer mehr "Eigenständigkeit", die Bevormundung hört auf, soll wohl den Prozess darstellen, dass er durch den Umgang mit Louisa wieder ein eigenständige Person wird, in dem Rahmen, in dem das möglich ist. Wie erwartet, entwickelt sich eine zarte Liebesgeschichte zwischen den beiden. Das alleine wäre ja nicht schlimm, aber gleichzeitig rückt die Behinderung (er kann wie Samuel Koch nur seine Schultern bewegen, nicht die Arme wenn ich das richtig verstanden habe) völlig in den Hintergrund und wird so gut wie gar nicht mehr erwähnt. Nur, dass er eben in einem Rolli sitzt. Nun ja. Ich bin jetzt im letzten Drittel - dass ich das Buch überhaupt weiterlese ist nur dem Umstand geschuldet, dass ich derzeit wenig Zeit habe und direkt keinen Ersatz parat habe. Und es interessiert mich, wie die Autorin das mit der Liebesstory durchzieht. Ich kann nicht verstehen, dass das Buch so unglaublich viele gute Rezensionen auf Amazon bekommen hat und komme zu dem Schluss, dass es wohl doch noch sehr viele Menschen gibt, die keine Ahnung haben. Ich habe da sicher auch noch mal einen anderen Background durch meine Ausbildung. Einige von euch hier lesen ja auch Jules Blog (das Mädchen, dass durch einen Verkehrsunfall ebenfalls querschnittsgelähmt ist, der Querschnitt aber eben weiter unten) - wenn man so eine Geschichte im Hinterkopf hat, muss man eigentlich merken, dass dieses Buch doch ziemlich realitätsfern ist. Und sicher, es gibt die Geschichte von Philippe Pozzo die Borgo und seinem Betreuer und Helfer Abdel Yasmin Sellou, die tatsächlich so geschehen ist - aber das ist schon eine sehr besonderes Sache und wohl eher die große Ausnahme. Und die beiden sind nicht obendrauf noch ein Liebespaar geworden. Ich rate definitv von diesem Buch ab - es vermittelt falsche Vorstellungen, darüberhinaus überzeugt es weder durch eine besonders schöne Sprache oder toll ausgearbeitete Figuren. Wenn ihr was in die Richtugn lesen wollte, lest lieber das Buch über Samuel Kochs leben oder die Biographien von Philippe Pozzo di Borgo ("Ziemlich beste Freunde: Ein zweites Leben") oder seinem Pfleger Abdel Sellou ("Einfach Freunde: Die wahre Geschichte des Pflegers Driss aus 'Ziemlich beste Freunde' ").
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